Gesichte und Erscheinungen
Zu Kunst auf Distanz gehen — dieses scheinbar merkwürdige Postulat ist den Bildern von Eva Kunstmann angemessen. Distanz ist konkret gemeint, als räumliche Entfernung. Aus der Nähe gewahrt der Betrachter Strukturen, Farben und Stofflichkeit. Wenn Zurückweichen geschieht, nehmen Kolorit und Konturen Gestalt an, auch dies im Wortsinn: Geheimnisvolle Wesen, menschenähnlich, treten aus dem Hintergrund, eröffnen sich. Farblich abgesetzte Partien erhalten einen Sinngehalt, wenn sich wie aus orphischem Untergrund Figuren herausbilden. Manchmal sind es Köpfe, die an die Oberfläche gleiten wie aus meertiefem Wasser. Eva Kunstmann nennt sie Gesichte.
Deutlich und diffus zugleich sind diese Erscheinungen, was ihre Unverwechselbarkeit ausmacht. Bisweilen mögen sie auch Pflanzen ähneln oder Vögeln mit dunklen Schwingen oder vom Winde verwehten Blumen. Manchmal tendiert die Assoziation zu Archaischem, wie es durchaus Eva Kunstmanns Denken entspricht. Alte Kulturen scheinen ihr manchmal so nahe, als habe sie sie erlebt. Der sehenden Phantasie werden Grenzen nicht gesetzt. Der Betrachter schaut das Gemälde und er hat Vorstellungen, er definiert es neu — nach seinem Bilde. Unterschiedliche Empfindungen werden zum Erlebnis. Nicht was der Künstler sagen will, ist zu fragen, sondern: Was empfinde ich vor diesem Bild?
Es sind zumeist Einzelfiguren, die eine Form annehmen, was auch mit den Abmessungen zu tun hat. Eva Kunstmanns Präferenzen liegen beim großen Hochformat. Auf Querformaten kristallisieren sich eher Gruppierungen heraus — aus welchen Bereichen der vielfältigen Natur auch immer.
Auf kleineren Formaten wiederum formen sich Figuren konkreter hervor, vordergründiger. Sie mögen kapriziösen Kobolden ähneln, grazilen Damen oder sportiven Herren. Erzählungen tun sich auf, so wie sich etwa auf Kirchenportalen Geschichten eröffnen. Auch hier bleibt der individuellen Ausdeutung ein weites Feld.
Das Seh-Erlebnis erfordert Zeit.
Eva Kunstmanns Bilder erschließen sich in der Ruhe. Der Betrachter ist eingeladen, das Bild anzunehmen, als eine terra incognita, die es zu erforschen gilt. Sublime Gelassenheit hat der Erkundende mitzubringen.
Schon beim Entstehen spielt der Faktor Zeit für Eva Kunstmann eine Rolle. Sie benötigt und nimmt sich Muße. Ihre Arbeitsweise ist als geduldiger Prozeß angelegt. Ihre Bilder entwickeln sich in weiten zeitlichen Räumen. Oft liegen bis zu drei alte Arbeiten unter einem fertigen Gemälde. Zwischenstadien stellen wichtige Schritte im Arbeitsprozeß dar.
Als Materialien verwendet Eva Kunstmann naturbelassene Baumwollstoffe oder braunes oder graues Packpapier, das durch Gebrauch bereits geknautscht wurde. Geglättet verbleiben gleichwohl Strukturen. Die Fläche ist in Bewegung. Am Anfang steht immer großzügiges Auftragen von Weiß, das zur Gänze abtrocknen muß. Dadurch erhalten die aufgetragenen Farben ihre Leuchtkraft. „Sie funkeln wie Bergkristall zwischen Marmorklippen", sagte einmal ein Künstlerkollege.
Manche Partien wiederum sind beim Aufbringen des Weiß ausgespart. Die Farben, die hier hinzukommen, zeigen sich morbid und matt. Spannungsreiche Kontraste im malerischen Gesamtkontext entstehen. Für die Farbgebung selbst werden bis zu vier, manchmal gar fünf Schichten übereinandergelegt. Eine Dichte bildet sich heraus, die charakteristisch ist.
Weitere Arbeitsgänge bestehen aus Callagieren. Handgeschöpftes Japanpapier, von Eva Kunstmann eingefärbt und zu unregelmäßigen Teilen aufgerissen, ist einzufügen, auf den ersten Blick beliebig, im Überblick stimmig. Kunst des Proportionierens. Und wiederum nimmt sich die Künstlerin Zeit: Farben und Collagen werden mehrmals differenzierend überarbeitet — bis das Bild vollendet ist.
Und erst dann eröffnet sich Eva Kunstmann eine Erklärung, die dann in den Titel eingehen mag. Anklänge an afrikanische Kunst finden sich wie in „Bena" (ein afrikanischer Frauenname), oder an literarische Texte wie in „Der ferne Morgen" — oder an die Musik: „Des Wesens Dur und Moll". Eva Kunstmann bewegt sich in beiden Bereichen, der Musik und der Malerei, eine in der Kunstgeschichte relativ seltene Kombination.
Axel Winterstein, im Mai 2000